Die wirklich soziale Demokratie

Zum 125. Geburtstag von Wilhelm Leuschner hat Axel Ulrich, der Vorsitzende der Historischen Kommission des Bezirks Hessen-Süd, einen zusammenfassenden Text über den Darmstädter Gewerkschaftsfunktionär und Kommunal- sowie Landespolitiker verfasst, nach dem die höchste hessische Verdienstauszeichnung benannt ist. Wir dokumentieren den Text hier:

„Haltet zusammen. Baut alles wieder auf.“ Diesen lapidaren Auftrag an seine Freunde und Mitstreiter hatte der vormalige prominente SPD-Politiker und Gewerkschaftsführer seinem Sohn Wilhelm in seinem Abschiedsbrief mitgeteilt, kurz bevor er in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee am 29. September 1944 hingerichtet worden ist.

Gemeint hatte Leuschner damit zum einen, dass die diversen demokratischen Kräfte, die während der bitteren Jahre der NS-Gewaltherrschaft im Widerstand zusammengefunden hatten, sich auch künftig nicht auseinanderdividieren lassen dürften. Zudem galt sein Appell der Beibehaltung der von ihm seit Mitte 1934, nach seiner Freilassung aus einjähriger KZ-Haft konsequent betriebenen Zusammenführung der nichtkommunistischen gewerkschaftlichen Widerstandskräfte, um späterhin eine einzige große Volksgewerkschaft für sämtliche lohn- und gehaltsabhängig Beschäftigten ab 18 Jahren zu begründen. Außerdem sollten die verschiedenen, untereinander heillos zerstrittenen Abspaltungen von der SPD, so seine darüber hinausgehende Vision, sich mit dieser wieder zu einer einigen Gesamtpartei zusammenschließen.

Seine Aufforderung, alles wieder aufzubauen, meinte des Weiteren nichts anderes, als die Wiederherstellung einer parlamentarisch verfassten Demokratie. Hierin unterschieden sich Leuschner und seine Mitstreiter eklatant von den meisten konservativen Widerständlern, die nämlich für die Zeit nach Hitler die Errichtung eines autoritären Herrschaftssystems bzw. eines Ständestaates favorisierten. Dagegen wollte Wilhelm Leuschner sich durchaus an der Weimarer Republik orientieren, die ihm aber schon während seiner Zeit als Innenminister des Volksstaates Hessen als dringend optimierungsbedürftig erschienen war. Insbesondere wollte er die gerade erst begründete politische Demokratie zu einer wirklich sozialen Demokratie weiterentwickelt sehen, die dann obendrein noch die gerechte wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe der arbeitenden Bevölkerung durchsetzen sollte.

Der am 15. Juni 1890 in Bayreuth geborene Holzbildhauer hatte ein Vierteljahrhundert lang seinen Lebensmittelpunkt in Darmstadt, wo er als Gewerkschaftsfunktionär sowie als Kommunal- und Landespolitiker wirkte. Um sozial-, sicherheits- und verkehrspolitische Fragen hat er sich ebenso verdient gemacht wie um kulturelle Belange. 1926 ist er zum nun auch von Frankfurt aus agierenden Bezirkssekretär des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes für Hessen, Hessen-Nassau und Waldeck aufgerückt. Als u. a. für die Politische Polizei zuständiger Minister führte er seit 1928 einen konsequenten Abwehrkampf gegen die republikfeindlichen Aktivitäten von rechts wie von links außen.

In zehnjähriger illegaler antifaschistischer Widerstandsarbeit hat Wilhelm Leuschner dann von Berlin aus ein schließlich im gesamten Reichsgebiet außerordentlich weit verzweigtes Netzwerk primär sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Vertrauensleutestützpunkte geschaffen. Darin involviert waren am Ende mehrere Tausend Anti-Nazi-Kräfte. Diese hätten nach einem von den oppositionellen Militärs herbeigeführten Umsturz sofort aktiviert werden sollen, um das Unternehmen zu guter Letzt in demokratische Bahnen zu lenken.

Leuschners eiserner Verschwiegenheit und dem hohen Grad an konspirativer Absicherung seiner Widerstandsstruktur war es zu verdanken, dass mit ihm nur einige wenige weitere führende zivile Widerstandsaktivisten nach dem gescheiterten Staatsstreichunternehmen vom 20. Juli 1944 in die Fänge der braunen Häscher geraten sind. Deshalb konnten viele seiner Mitstreiter, die von der Gestapo nicht entdeckt worden sind, sofort nach dem Einmarsch der Alliierten mit der politischen und gewerkschaftlichen Reorganisationsarbeit beginnen. Im SPD-Bezirk Hessen-Süd gehörten hierzu z. B. unser erster Bezirksvorsitzender Willy Knothe und dessen alsbaldiger Stellvertreter und seinerzeitige Darmstädter Oberbürgermeister Ludwig Metzger, der erste gewählte hessische Nachkriegsministerpräsident Christian Stock, der erste Landesvorsitzende des Freien Gewerkschaftsbundes Hessen und spätere DGB-Vorsitzende Willi Richter sowie Prof. Dr. Ludwig Bergsträsser. Dieser ist 1945 von der US-Militärregierung erst als Präsident der Provinz Starkenburg, dann für Oberhessen und schließlich für den ganzen früheren Volksstaat Hessen eingesetzt worden, amtierte anschließend als Regierungspräsident in Darmstadt und war 1948/49 auch an der Ausarbeitung unseres Grundgesetzes beteiligt. Bergsträsser hatte übrigens für Wilhelm Leuschner 1942/43 im Widerstand zwei Denkschriften zu bildungs- und verfassungspolitischen Fragen ausgearbeitet, von denen eine den Titel „Wiederherstellung“ trug und damit gewissermaßen Leuschners in seiner Todeszelle formulierten Aufruf zum Wiederaufbau einer Demokratie vorweggenommen hat.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Taunusstr. 4–-6, 65183 Wiesbaden, ist gegen eine geringe Gebühr ein umfangreiches Buch über Wilhelm Leuschner erhältlich, nach dem nicht zuletzt die höchste hessische Verdienstauszeichnung benannt worden ist.

Dr. Axel Ulrich